Scham ist Ursache für die Angst vor Neuem und Fremden
Bei mir war der Freiheitswille schon von Kindheit stärker ausgeprägt. Vielleicht weil ich als Kind von DDR-Flüchtlingen aufgewachsen bin? Nach dem Studium haute ich vor dem drohenden „Hamsterrad“ ab. Ich bin als Straßenmusikantin durch ganz Südeuropa getourt, habe in einem Wanderzirkus in Italien mitgemacht und in einer Bauwagen-Kolonie an der Ostsee und einer Gartenlaube in Hamburg gelebt. Später hatte ich einen Topjob an der Börse mit einem horrenden Stundensatz und ich hatte da einen Vertrag, nach dem ich nur einen Monat im Quartal arbeiten durfte.
Nach der Wiedervereinigung und dem Tod der lieben Großmutter Hilde haben meine Eltern mir das Haus der Großeltern im Erzgebirge geschenkt und so kam es, dass heute mein großzügiges Soul-Painting-Atelier in der ehemaligen Holzmanufaktur meines Opas ist und ich im sächsischen Erzgebirge gleich neben der tschechischen Grenze lebe.
Normalerweise kümmere ich mich nicht um Politik und die negativen Nachrichten über die Welt. Aber manchmal tragen Menschen um uns herum uns Nachrichten zu. So in den letzten anderthalb Wochen geschehen: Eine alte Freundin zu Besuch erzählt mir, dass Freiberg jetzt ja wohl in ganz Deutschland bekannt sei wegen eines Anschlags auf ein Flüchtlingsheim und ein Freund aus dem Dorf erzählt mir, dass ihn Leute fragen: „Was ist denn bei Euch los, dass so viel Leute die AfD wählen“.
Ich habe die Geschichten Johannes erzählt. Der hat dann recherchiert. Und hat über Freiberg nichts in Google News gefunden. Anscheinend hat meine Freundin da etwas verwechselt. Es gab mal einen Vorfall in einem der Nachbardörfer, wo anscheinend zwei Autos einen Flüchtlingsbus angehalten haben und die Fremden mit Gebrüll einschüchtern wollten. Und die Wahlergebnisse der AfD sind nicht nur in unserem wunderbaren Dorf so, oder in unserem Landkreis, sondern in ganz Sachsen.
Normalerweise würde ich mich jetzt nicht weiter darum kümmern. Aber als Flüchtlingskind mit sächsischem Blut in den Adern und vor Ort lebend kann ich vielleicht noch etwas anderes Licht auf die Sache geben.
Die Sachsen, die vor vielen Jahrtausenden den Stamm der Boier aus dem Elbetal vertrieben haben. Die Sachsen, deren Reich sich entlang der Elbe über das heutige Sachsen-Anhalt und Niedersachsen bis an die Nordsee erstreckte. Die Sachsen, die mit den Angeln die britische Insel erorberten und die angelsächsische Kultur begründeten, sind schon immer ein stolzes und eroberungsfreudiges Volk gewesen. Freilich sind die Sachsen im späteren Königreich und heutigem Freistaat Sachsen diejenigen, die geblieben sind.
Und vielleicht hat ihre Angst vor dem Neuen und Fremden gegenüber ja etwas damit zu tun.
Denn genau das ist es, was ich hier erlebe. Das ist uns schon seit Längerem aufgefallen. Angst vor dem Neuen und Fremden. Die Menschen haben nicht nur Angst vor Flüchtlingen aus dem Ausland mit einer fremden Kultur. Nein, sie haben auch Angst vor neuen Projekten, vor neuen Unternehmungen und allgemein Fremden. Wenn meine Sandkastenfreundin aus Karlsruhe zu Besuch kommt und in der Dorfgaststätte nach dem Weg fragt, erntet sie genauso Misstrauen Fremden gegenüber, als würde jemand versehentlich in den Hinterraum einer Mafia-Gang geraten. Und dabei wäre meine blonde Freundin früher als „Vollblut-Arierin“ durchgegangen.
Andererseits erlebe ich die Sachsen und die Menschen vor unserer Haustür auch als sehr herzliche Menschen. In meinem Dorf gab es Überlegungen zu Solidaritätsinitiativen für die Flüchtlinge in Clausnitz. Hier gibt es Pflanzentauschbörsen und Vorleseabende. Freiberg ist eine multikulturelle Stadt. Die Bergakademie und Universität ist immer noch weltweit führend und hat Studenten aus aller Welt.
Warum also sind diese wunderbaren Sachsen und Erzgebirgler so ängstlich Neuem und Anderem gegenüber?
In diesem Zusammenhang habe ich dann in den letzten Tagen etwas wirklich Interessantes von der bekannten amerikanischen Soziologie- und Schamforscherin Brené Brown gelesen. Sie schreibt in Ihrem Buch: „Verletzlichkeit macht stark“ (S.225ff.):
„Scham züchtet Angst. Sie macht uns intolerant gegenüber Verletzlichkeit und tötet damit Engagement, Innovation, Kreativität, Produktivität und Vertrauen.“
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Es ist hier auch Scham die Ursache. Dieses stolze Volk der Sachsen, die schließlich in der ehemaligen DDR zu 100% die Regierungschefs gestellt haben. Dieses stolze Volk musste mit ansehen, wie der Osten zu Grunde ging. Wie die DDR von der BRD übernommen wurde. Wie die westdeutsche Industrie nach der Verscherbelung des Treuhandeigentums die ostdeutsche, die seinerzeit im Ostblock der Warschauer-Pakt-Staaten in vielen Bereichen führend war, oftmals stillgelegt wurde.
Sie mussten in einem Land, das den Selbstwert eines Menschen immer noch nach der Arbeit, die er verrichtet, bestimmt. und nach dem Geld, das er für diese Arbeit „ver-dient“ und „von dem er lebt“, mit ansehen, wie 25% der Menschen arbeitslos wurden und andere gefühlte 25%, meistens die besten von ihnen, Woche für Woche in den Westen pendeln müssen, wie Söldner.
Das kann Scham verursachen und damit all die Wirkungen, von denen eben Ressentiments gegen Fremdes und Neues dazu gehören.
Brené Brown schreibt weiter:
„Dennoch ist es nicht hilfreich, jemanden zu beschämen, der mit Scham arbeitet.“
Als die vier besten Strategien für eine schamresiliente Organisation bzw. Gesellschaft nennt sie die Unterstützung von Führungspersönlichkeiten, die bereit sind, Großes zu wagen, die Schärfung der Wahrnehmung gegenüber Scham, die Bewertung von normalen Problemen als solchen und die Vermittlung des Unterschieds zwischen Scham und Schuld.
Für mich persönlich sind die Ansätze von Brown eine Hilfe, um Menschen lieben und vergeben zu können, die Meinungen vertreten, die wir selbst nicht billigen. Der Ansatz von Brown, davon auszugehen, dass der Andere bereits sein Bestes gibt, auch bei Fehlverhalten, kann helfen.
Natürlich können wir nicht für alles Verständnis aufbringen. Vergeben heißt nicht, sich vor dem Anderen vor die Füße zu werfen, sagt mein Meditationsmeister immer. Sondern wir tun es für uns, um innerlich frei zu sein.
In diesem Sinne wäre es zumindest ein Denkansatz, zu versuchen, den Menschen im Osten ihre Würde wieder zurück zu geben. Bedenken wir nur, wie unsere heutige Kultur aus dem Osten Deutschlands geprägt wurde, von Persönlichkeiten wie Elisabeth von Thüringen, Martin Luther, Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Sebastian Bach und Johann Wolfgang von Goethe. Lasst uns dem Osten wieder Zukunft geben! Lasst uns die Sonne im Osten aufgehen!